Aktuelle Debatte Streikrecht – Liebscher: Gute Wirtschaftspolitik heißt auch, wettbewerbsfähige Arbeitsbedingungen anzubieten

Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete,

nennen Sie es Mode, Konjunktur, Einfallslosigkeit. Für mich ist es schlicht Kasperletheater. Regelmäßig ist dasselbe Schauspiel zu bewundern: Gewerkschaften gehen in den Arbeitskampf. Und die prompte Reaktion der Union: Entsetzen, Untergangsbeschwörungen und die Forderung, das Streikrecht einzuschränken…

Das ist unsouverän und langweilig. Und vor allem: Streik ist ein Grundrecht! Bemühen wir das Grundgesetz, das sehr deutlich in Paragraf 9 Absatz 3 formuliert:

„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
warum läuft dieses Kasperletheater denn trotzdem immer wieder?

Wir haben jahrzehntelang mit diesem Streikrecht gelebt und gearbeitet. In systemrelevanten Berufen hat man während der Streiks Notfallpläne aufgestellt und Versorgung der kritischen Infrastruktur gewährleistet.

Deutschlands Streikvolumen liegt im internationalen Vergleich nur im unteren Mittelfeld: Während unsere internationalen Partner wie Belgien, Frankreich oder Kanada im Schnitt bei 80 bis 100 streikbedingten Ausfalltagen pro tausend Beschäftigte lagen, fielen bei uns in Deutschland pro tausend Beschäftigte nur 18 Ausfalltage im Jahr an.

In Sachsen waren es noch weniger. Von Unverhältnismäßigkeit kann da keine Rede sein! Als BÜNDNISGRÜNE stellen wir uns klar hinter die Rechte der Arbeitnehmenden.

Als Geschäftsführer der VOSLA habe ich gelernt, dass Tariflöhne zum Erfolg gehören. Gute Wirtschaftspolitik heißt für mich auch, wettbewerbsfähige Arbeitsbedingungen anzubieten. Woher sollen wir die Fachkräfte denn sonst nehmen? Arbeitskämpfe und Betriebsfrieden sind Schlicht Teil des Geschäfts.

Warum ist diese verstaubte Unionsforderung dann noch immer so ein Aufreger?

Ich kann es Ihnen nicht sagen. Aber ich kann Ihnen sagen, was mich daran aufregt: Wir BÜNDNISGRÜNE kritisieren, dass dieses Theater auf dem Rücken von der Arbeitskräfte ausgetragen wird, die unser System am Laufen halten!

Wir alle haben ein Interesse daran, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege, in der Recyclingwirtschaft oder Energieversorgung, in der Kinderbetreuung, im öffentlichen Nahverkehr attraktiv werden. Denn nur so lassen sich Menschen finden, die sich jeden Tag bereit erklären, unsere Grundversorgung zu sichern!

Zum Tag der Pflege im Mai 2022 twittert die Union: „Attraktive Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen sind die größte Wertschätzung, die wir unseren Pflegekräften entgegenbringen können.“

Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Halbwertszeit dieser Forderung ist nicht mal ein Jahr.  Jetzt wird gestreikt – und die Union? Fordert die Einschränkung des Streikrechts…

Werte Damen und Herren,
wir BÜNDNISGRÜNE sagen: Ja, Streik ist nervig. Streik kostet. Streik ist unbequem denn das ist es, was Streik ausmacht.

Auch ich wartete schon vergeblich auf den Bus. Aber wir BÜNDNISGRÜNE laufen die Extrameile für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder: Wir nehmen das Fahrrad.

Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen,

wir könnten die Frage ja genauso einmal umdrehen, wenn wir europäisches Recht zugrunde legen.

Bei unseren europäischen Partnern in Frankreich laufen aktuell Großstreiks gegen eine geplante Erhöhung des Renteneintrittsalters.

Warum haben Deutsche kein allgemeines Streikrecht? Warum gehen hier am 8. März nicht reihenweise Frauen auf die Straßen und machen Rabatz für mehr Gerechtigkeit?

Ganz einfach: Das hiesige Recht ist nach geltender Rechtsprechung auf die Zweckbindung der Tarifauseinandersetzung beschränkt. Es gibt kein allgemeines Streikrecht. Es gilt darüber hinaus ein Streikverbot für Beamte.
Ich möchte diesen Teil der Wahrheit hier benennen, um das Bild rund zu machen. Denn wenn es den konservativen Kräften darum geht, das Streikrecht zu verändern, wird oft nur eine Seite sichtbar.

Werte Abgeordnete,
Anfang März: Die gemeinsamen Demonstrationen der Gewerkschaft ver.di im Zuge des Tarifstreits im Öffentlichen Dienst und Fridays for Future für Klimaschutz und die Verkehrswende weisen uns darauf hin, wie eng Tarifverhandlung und politische Forderungen nach einer klimagerechten Welt miteinander verknüpft sind.

Vielleicht sind es diese neuen Bündnisse, die die Union auf die Palme bringen. Denn wieder folgt auf dem Fuße die alte Forderung: Tarifrecht einschränken…

Nach BÜNDNISGRÜNER Sicht ist der Zusammenhang klar: Die Arbeitsbedingungen im ÖPNV müssen sich verbessern, um Belastung und Personalmangel zu reduzieren. Der Aktionstag hat gezeigt: Gemeinsam gelingt die soziale und ökologische Verkehrswende!

Vielen Dank!

Arbeit & Wirtschaft | | 15.03.2023

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