Eisenbahn-Testzentrum – Liebscher: Bahnindustrie ist eine europäische Schlüsselbranche

Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen,

was würde die Bahnteststrecke TETIS für Sachsen bedeuten? Für die Lausitz? Für Niesky, für das Örtchen Hähnichen?

Aus struktur-, wirtschafts-, verkehrs- und klimapolitischer Sicht ist diese Frage aus Landesperspektive sicherlich einfach zu beantworten. Es geht um die Chance, den Wirtschaftsstandort Lausitz, die Bahnindustrie der Region und des Freistaates Sachsen deutlich zu stärken. Es gilt, das Gebiet wieder attraktiv und vor allem zukunfts- und wettbewerbsfähig zu machen.

Selbstverständlich wollen wir BÜNDNISGRÜNE, dass es weiterhin Bahnfahrzeuge und Bahntechnik „Made in Sachsen“ gibt. Die Bahnindustrie ist eine europäische Schlüsselbranche – auf dem europäischen Weg zur Klimaneutralität wird sie eine starke und unverzichtbare Partnerin sein.
Die Idee, mit Alstom hier einen starken europäischen Konkurrenten zu China aufzustellen, hat ihre Vorteile und ihre Schwächen.

Die Umstrukturierung muss nicht nur wettbewerbsrechtlich sauber sein und eine breite Angebotspalette aufrechterhalten. Unsere europäische Industriepolitik muss deutlich zur Stärkung der Bahnindustrie als Schlüsselbranche der Mobilitätswende führen. Ein neues europäisches Testzentrum im Freistaat würde nicht nur dem Erhalt der sächsischen Bahnhersteller dienen, sondern auch die Arbeitsplätze durch Innovation in der Region halten.

Wir alle verfolgen sehr eng die Beratungen um die Standorte von Alstom in der Lausitz. Michael Kellner, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, reiste prompt an und auch unsere Fraktionsvorsitzende, Franziska Schubert, begleitet die Gespräche.

Eine Umsetzung von TETIS bekommt natürlich gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Alstom-Pläne, eine zentrale Bedeutung. Die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Bahnstandortes Lausitz würde damit deutlich unterstrichen.

Die TETIS-Potentialstudie spricht von 150 direkt Beschäftigten durch den Schienentestring TETIS, der Sicherung von 9.800 bestehenden Arbeitsplätzen bei Schienenfahrzeugherstellern und 3.300 Arbeitsplätzen der Bahntechnikbranche in der Lausitz. Im gesamten Bundesgebiet arbeiten sogar insgesamt etwa 550.000 Beschäftigte direkt und indirekt im Bahnsektor.

Es wird Zeit, dass dieser Branche endlich die Aufmerksamkeit zu Teil wird, die sie verdient! Denn auch am Bedarf werden die Pläne nicht scheitern: Das zeigt sich vor allem daran, dass die fünf bestehenden Testringe in der Europäischen Union bereits heute an ihre Kapazitätsgrenzen geraten, beziehungsweise auf Jahre im Voraus ausgebucht sind.

Werte Damen und Herren,
diese wirtschafts- und strukturpolitischen Erwägungen sind auch für uns BÜNDNISGRÜNE wichtige Faktoren bei der Bewertung des Projektes.

Aber wir müssen uns auch andere Fragen stellen: Was bedeutet TETIS für die Menschen vor Ort, die den Namen ihres Wohnortes auf einmal in der Zeitung im Zusammenhang mit einem 200 bis 300 Millionen Euro Projekt lesen und natürlich als erstes fragen: Wohin kommt das genau? Was bedeutet das für mich? Wie laut wird das, an wie vielen Stunden am Tag und an wie vielen Tagen in der Woche? Was wird aus der Natur in unserer Umgebung, wenn 45 Hektar Wald und Ackerland genutzt werden?

Diese Fragen sind völlig verständlich und mehr als berechtigt. Doch leider werden in der Kommunikation von neuen Projekten nach wie vor Bedenken und offene Punkte viel zu wenig und selten gleich von Anfang an berücksichtigt. Die Folge: Die Situation vor Ort eskaliert.

So, wie Anfang dieses Jahrs in Hähnichen bei Niesky geschehen, als der geschäftsführende Bürgermeister aufgrund der Unterzeichnung der TETIS-Absichtserklärung das Misstrauen ausgesprochen bekam und seine Abwahl im Raum stand.

Dass die AfD sich dann an die Proteste und Bürgerinitiative ran robbt, das Thema versucht blau anzumalen und zu okkupieren, ist ja nicht zum ersten Mal vorgekommen. Doch das dürfen wir, und da schaue ich jetzt auch in Richtung Staatsregierung, nicht zu lassen!

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Kommunikation so viele Lücken lässt und die Menschen vor Ort mit derart vielen Fragenzeichen stehen gelassen werden! Es ist ja nicht so, dass alle in der Region seit Jahr und Tag auf TETIS als Heilsbringer gewartet haben. Im Gegenteil, TETIS schwebte ein, wie eine Art Ufo, und die Verantwortlichen erwartetet umfängliche Freude über diese ungefragte Beglückung aus dem fernen Dresden.

Das, meine Damen und Herren, öffnet leider Tür und Tor für Verdruss.

Wichtig ist doch, dass die Menschen in der betroffenen Region frühzeitig und umfassend beteiligt werden. Und genau an dieser Stelle wird auch offenbar, wie scheinheilig die AfD agiert, hier im Landtag, aber auch in der Lausitz. Im Entschließungsantrag zur Großen Anfrage fordert sie, dass Projekte, wie TETIS, erst öffentlich gemacht werden, wenn alle Investoren- und Finanzierungsfragen geklärt sind. Das hieße im Umkehrschluss, die Menschen vor Ort hätten noch weniger Mitspracherecht. Die AfD entlarvt sich hier einmal mehr selbst. Sie ist nicht der Anwalt des kleinen Mannes, sondern versucht aus legitimen Informations- und Beteiligungsbedürfnis politischen Profit zu schlagen.

Die eigentlichen Anliegen der Bürger*innen vor Ort sind ihr herzlich egal. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Durchboxen von Großprojekten gegen den Willen der Bevölkerung nicht mehr zeitgemäß ist und diese Projekte dann auch nicht gelingen. Natürlich wird man nie 100 Prozent der Menschen hinter solch einem Projekt vereinen können, davon rede ich auch nicht. Mein Ziel ist, die Betroffenen mit ihren Bedenken und Anregungen ernst zu nehmen.

Die Bürgerinitiative „Stopp TETIS“ beispielsweise ist ja nicht grundsätzlich gegen das Projekt, sondern sie wollen das Projekt kritisch begleiten und wünschen sich umfassende Informationen und Mitspracherechte.

Werte Kolleginnen und Kollegen,
natürlich kann nur über Dinge informiert werden, die auch schon bekannt sind. Im Fall von TETIS ist tatsächlich noch wenig bekannt, da es noch keinen Investor gibt, der das Projekt umsetzt und ausgestaltet. ABER es kann und darf für die bis dato Verantwortlichen kein Grund sein, die Füße stillzuhalten und die Bürgerinnen und Bürger auf den Sankt-Nimmerleinstag, den Investor oder das Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren zu vertrösten: All jene Dinge, über die Informationen bereits vorliegen, müssen umfassend und sehr frühzeitig auf den Tisch! So wie die Potentialanalyse und die aktuellen TETIS-Rahmenbedingungen.

Wenn den TETIS-Initiatoren das Projekt wirklich am Herzen liegt, und davon gehe ich aus, sind diese nun auch in der Pflicht, Ressourcen in die wichtige Kommunikations- und Beteiligungsarbeit zu stecken. Dadurch kann nicht nur das scheinheilige blaue Aufspringen auf den Bürgerprotest entlarvt und entkräftet werden, sondern es werden auch wichtige Vorarbeiten für das Projekt selbst geleistet.

Denn mal ehrlich, welcher Investor kommt in eine Region, die sein Projekt grundsätzlich vehement ablehnt und investiert hunderte Millionen Euro, um sich nach den aufwendigen Planungen noch langwierige und umfassende Klageverfahren anzuheften? Solch ein Weltraumspaziergänger ist für die Lausitz noch nicht gefunden und wird sicherlich auch schwerlich vom Himmel fallen.

Um die Chance für TETIS und so auch für den Bahnstandort Lausitz in Sachsen aber auch für Deutschland zu nutzen, braucht es eine neue Beteiligungs- und Kommunikationskultur im Freistaat. Eine Kultur, die der Volkswillen-Polemik der AfD transparente Informationen, ergebnisoffene Dialoge und Beteiligung von Anfang an entgegensetzt.

Die übrigen Forderungen des AfD-Entschließungsantrages gehen weder auf die TETIS ein noch versuchen sie zielorientiert die Problematik zu lösen und die bestehende Wirtschaftsstruktur, fern der Braunkohle, zukunftsfähig zu machen. Nein, der AfD fällt nicht mehr viel ein, außer Kernfusionsträumereien. Sie können die Menschen vor Ort gern fragen, wie sie zu diesen Aussichten auf eine „strahlende“ Zukunft direkt vor ihrer Haustür denken.

Meine Damen und Herren,
einmal mehr entlarvt sich die AfD als janusköpfiger Scharlatan, der einerseits legitimen Bürgerprotest schamlos zum Stimmenfang instrumentalisiert und andererseits Bürgerbeteiligungsdialoge und Information unterbinden will. Wir BÜNDNISGRÜNE setzen unsere eigene Agenda und lehnen den Entschließungsantrag der AfD selbstverständlich ab.

Arbeit & Wirtschaft | | 22.12.2021

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